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Erscheinungsformen


Wer verletzt sich selbst?


Erscheinungsformen


Die Definition, die hier für Selbstverletzendes Verhalten verwendet wird, beinhaltet nur solche Art der Selbstverletzung, die eine direkte Verletzung des Körpers zum Ziel und zur Folge haben. Damit ist eine Absicht zur Verletzung gemeint. Das heißt, dass ebenfalls selbstschädigende bzw. den Körper verletzende Verhaltensweisen wie Rauchen, Piercing, Tätowieren, ungesunde Lebensweise im engeren Sinne nicht dazugehören. Das soll aber nicht heißen, dass diese Verhaltensweisen ausgeschlossen sind in den verschiedenen Erscheinungsformen von SVV. Wenn jemand absichtlich so viele Zigaretten raucht oder Alkohol trinkt – mit dem Ziel von Übelkeit bzw. totaler Betäubung – kann man dieses Verhalten durchaus als SVV bezeichnen. Gleiches gilt für die anderen genannten Verhaltensweisen – wenn es darum geht, einen psychischen Schmerz mit einem physischen Schmerz zu betäuben / überwinden / übertünchen. Ich denke bei Drogenkonsum (ich zähle hier auch den Alkohol dazu) ist die Trennlinie um einiges schwieriger zu ziehen, da meiner Meinung nach bei Missbrauch - bzw. bei einigen Personen ist sicher auch schon der Gebrauch ein Missbrauch – immer eine selbstschädigende Absicht – wenn auch nicht immer bewusst oder direkt beabsichtigt – zugrunde liegt. Andererseits denke ich aber auch, dass bei sinnvollem Gebrauch – immerhin werden einige als Drogen definierte Substanzen auch erfolgreich in der Medizin eingesetzt, abgesehen von dem teilweise üblichen Gebrauch in anderen Kulturen und bekanntlich ist ein Glas Rotwein pro Tag ja auch eher gesundheitsfördernd denn schädigend – keine selbstschädigende Absicht zugrunde liegt, sondern eher eine selbstfürsorgende (wo wir wieder bei der Überschneidung mit einem sehr wichtigen Ziel von SVV sind). Ich denke, dass man deshalb keine generalisierte Einteilung nach Erscheinungsformen machen kann, dazu müsste zum einen die Definition von Drogen für alle eindeutig sein, zum anderen müssen kulturelle und gesellschaftliche Unterschiede berücksichtigt werden.

Deshalb halte ich an der oben genannten Eingrenzung fest, nämlich, dass es auf das Ziel der Verhaltensweise ankommt. Trotzdem möchte ich im folgenden eine kurze Begriffseingrenzung bzw. Aufzählung der in unserem (europäischen) Kulturkreis häufig vorkommenden Erscheinungsformen vornehmen.

Medizinisch wird zunächst grob zwischen offener und heimlicher Selbstverletzung unterschieden.

In den hierzu veröffentlichten Definitionen unterscheidet sich die offene von der heimlichen Selbstverletzung dadurch, dass bei erstgenannter der Betroffene entweder seine Verletzungen vor anderen Personen vornimmt oder ansonsten bei der Erstversorgung oder einer evtl. psychiatrischen (Erst-)Untersuchung die Ursache der Verletzung aufklären (also sagen, dass sie sich selbst verletzt haben), während Betroffene der zweiten Kategorie die Verursachung verschweigen bzw. sogar leugnen, wenn sie danach gefragt werden – stattdessen werden die Symptome als ‚Eigensymptome’ (vom Körper verursacht) bezeichnet.

Das sind die zunächst doch sehr abgrenzenden Definitionen. Meiner Meinung nach ist es in der Realität jedoch weitaus schwieriger, zwischen offener und heimlicher Selbstverletzung unterscheiden. Sicher gibt es Personen – und sicher auch  nicht wenige -, die eindeutig einer Kategorie zugeordnet werden können. Ich glaube jedoch, dass ein ebenso nicht unbeachtlicher Anteil von Betroffenen sich genau dazwischen befindet. So würde ich jedenfalls den größeren Teil der Betroffenen, die ich kennengelernt habe, nach dieser Definition eher zu den offenen Selbstverletzern denn zu den heimlichen zählen und das, obwohl sie sic weder vor anderen schneiden noch unbedingt wahrheitsgemäß auf die Frage antworten, wie es zu der Verletzung gekommen ist. Nicht selten hört man als Ursache den Rosenstrauch, die Katze, beim Kochen ausgerutscht oder ähnliches. Auch geben die Betroffenen bei einer Untersuchung (am besten noch in der Notaufnahme) die Selbstverursachung zu. Ich denke, das liegt aber zum einen natürlich an den Hintergründen der Symptomatik, zum anderen (nicht unwesentlichen Teil) an den Umständen (‚Krankenhausabfertigung’, mangelndes Verständnis). So kenne ich Frauen, die im Krankenhaus die Selbstverletzung genannt haben und denen danach in keinster Weise fürsorglich oder verständnisvoll begegnet wurden, sondern die vielmehr eine äußerst ‚brutale’ Wundversorgung erfahren durften – nach dem Motto: ‚Wenn du dir selbst solchen Schmerz zufügst, wirst du das ja wohl aushalten’. Oder es fällt mir dazu auch immer wieder eine Filmszene ein (den Titel weiß ich leider nicht mehr): Eine junge Frau wird nach einem ihrer zahlreichen Selbstmordversuche, der von der Familie nicht mehr verdeckt werden konnte, in ein katholisches Krankenhaus eingeliefert. Dort gibt ihr eine Krankenschwester unmissverständlich zu verstehen, dass ihr Verhalten nicht tolerierbar ist, denn ‚wir sind hier, um kranke Menschen zu heilen, ihnen zu helfen, aber nicht denen, die dies selbst verursachen’ (sinngemäße Wiedergabe des Wortlauts). Von dieser Erfahrung hat mir auch schon eine Betroffene berichtet.

Um noch mal auf die Einteilung zurückzukommen, ich denke, dass diese Frauen trotz der Verheimlichung eher nicht in die zweite Kategorie einzuordnen sind, da die hier Betroffenen mit den selbstverursachten Symptomen sich oft in ärztliche Behandlung begeben, um dort eine Versorgung, nicht nur im physischen Sinn, zu bekommen. Die meisten ‚offenen Selbstverletzer’, die die Selbstverursachung verheimlichen, versorgen ihre Wunden in der Regel selbst – außer es ist doch einmal außer Kontrolle geraten und zu einer Wunde gekommen, die unbedingt einer medizinischen Versorgung bedarf (was nicht heißer soll, dass ich der Meinung bin, die anderen Verletzungen bräuchten dies nicht).

 Nach der Unterteilung in offene und heimliche Selbstverletzungen gibt es natürlich noch eine weitere Differenzierung, die hier aber im einzelnen erwähnt, aber nicht näher erläutert werden soll.

Bei der offenen Selbstverletzung unterscheidet man zwischen leichter und schwerer Selbstverletzung.

Bei der heimlichen Selbstverletzung gibt es die ‚Steigerungsformen’: heimliche Selbstverletzung, Münchhausen-Syndrom und Münchhausen-by-proxy-Syndrom (erweitertes Münchhausen-Syndrom). Für die beiden letztgenannten Formen, bei denen das Münchhausen-by-proxy-Syndrom eine meiner Meinung nach besonders extreme Erscheinungsform darstellt – und man wahrscheinlich davon ausgehen kann, dass dies am schwersten zu therapieren ist (d.h. nicht nur die bloße Verschiebung des Symptoms) – empfehle ich Interessenten die in der Literaturliste hierzu aufgeführten Veröffentlichungen oder in meinem Buch: Selbstverletzung. Symptome, Ursachen, Behandlung, in welchem sich eine Zusammenfassung befindet.


Häufige Erscheinungsformen bei der ‚offenen Selbstverletzung’ sind:

  • Schneiden
  • Ritzen
  • Kratzen
  • Zwicken
  • Klemmen
  • Beißen
  • Offenhalten bzw. Aufkratzen von Wunden / Wundschorf (auch Pickeln, Mückenstichen o.ä.)
  • Aufkratzen der Haut
  • Stechen
  • Ausreißen von Haaren, auch Wimpern oder Augenbrauen
  • Verbrennungen
  • Verätzungen mit Säuren oder Laugen
  • Verbrühungen
  • Quetschungen von Körperteilen
  • Heftiges Schlagen von Kopf oder anderen Körperteilen an Wände etc.
  • Abschnürungen, um Durchblutungsstörungen hervorzurufen
  • Schlucken von giftigen Substanzen

Zu den ‚bevorzugten’ Körperteilen gehören (in dieser Reihenfolge):

  • Arme, vor allem Unterarme und Handgelenke
  • Beine, vor allem Oberschenkel
  • Bauch
  • Kopf / Gesicht
  • Brust
  • Genitalbereich

Zur Be-Deutung der verschiedenen Körperteile gibt es einige Veröffentlichungen im Bereich ‚Frauenbücher’. Im Zusammenhang mit Selbstverletzung gehen insbesondere Smith / Cox / Saradjian (S. 19) darauf ein.

Wer verletzt sich selbst?

Die meisten Untersuchungen, die sich allerdings alle auf relativ kleine Patientengruppen beziehen, gehen davon aus, dass SVV eine Erscheinung ist, die mehr bei Frauen als bei Männern auftaucht.

Die Zahlen schwanken hier zwischen 80 Prozent Frauenanteil bis zu einer prozentual gleichen Aufteilung bei den Geschlechtern.

Auch ich habe bisher den Eindruck gewonnen, dass mehr Mädchen / Frauen als Jungen / Männer betroffen sind. Das heißt aber noch nicht, dass es der Realität entsprechen muss, wobei es – wenn man Hintergründe und Ursachen kennt – anzunehmen ist. Im Wandel der gesellschaftlichen Wertvorstellungen etc. kann es aber auch hier durchaus zu einer Veränderung kommen.

Bei den Essstörungen, früher ein ‚reines’ Mädchenphänomen, hat dieser Wandel schon stattgefunden. Immer mehr Jungen oder Männer sind auch essgestört.

Man hat z.B. festgestellt, dass Männer, die sich selbst verletzen, dies insbesondere in Situationen, in denen sie das Gefühl haben, die Kontrolle zu verlieren bzw. nicht mehr selbstbestimmt handeln zu können (d.h. wenn sie zu passivem Verhalten gezwungen sind), tun. Damit ließe sich möglicherweise auch die hohe Anzahl von männlichen Selbstverletzern in Gefängnissen erklären, wo bisher meist ausschließlich davon ausgegangen wurde, dass dies zu Hafterleichterungszwecken geschieht, wenn man nach Erklärungsmustern suchte.

Die Selbstverletzung ist auch kein Phänomen einer bestimmten Gesellschaftsschicht. Schätzungen in Deutschland gehen davon aus, dass 0,6 bis 0,75 Prozent der Gesamtbevölkerung von offener Selbstverletzung betroffen sind, bei der Gruppe der 15-30-jährigen geht man von ca. zwei Prozent aus. Wie groß hier der Frauen- und wie groß der Männeranteil ist, ist nicht bekannt. Bei den meisten nachfolgenden Untersuchungsergebnissen lag jedoch eine reine Frauengruppe vor.

Der Altersdurchschnitt liegt bei der offenen Selbstverletzung bei 18-28 Jahren, wobei man aber davon ausgeht, dass die Selbstverletzung in den meisten Fällen (60 %) im frühen Erwachsenenalter (16-25) oder zu einem noch früheren Zeitpunkt beginnt, nämlich in der Pubertät, bei Frauen nicht selten nach dem ersten Auftreten der Menstruation. Viele Frauen haben auch das Gefühl oder die Phantasie, das ‚schlechte Blut’ mit dem‚ guten Blut’ der Selbstverletzung kontrollieren, aufhalten, verhindern zu können.

Bei der heimlichen Selbstverletzung geht man von zwei Prozent der Patienten in Allgemeinkrankenhäusern aus. Der Beginn der chronischen Erkrankung ist hier zwischen dem 18. und 30. Lebensjahr anzusiedeln. Der Altersdurchschnitt liegt bei Frauen bei 30, bei Männern bei 39 Jahren. Erwähnenswert ist hier vor allem die Tatsache, dass beim Münchhausen-Syndrom als Unterform der heimlichen Selbstverletzung im Gegensatz zu den anderen SVVsweisen der Männeranteil statistisch gesehen höher liegt.

Es gibt außerdem noch eine weitere ziemlich große Gruppe von Personen, die zwar nicht unbedingt zu den o.g. Definitionsgruppen gezählt werden (obwohl man sehr häufig, wenn man sagt, dass man sich mit dem Thema SVV beschäftigt, zunächst auf diese Gruppe angesprochen wird).

Zumal es auch hier nicht selten Überschneidungen in der Verursachung des SVV mit den o.g. Formen gibt.

Gemeint sind Menschen mit geistigen oder körperlichen Behinderungen. Diese Personen zeigen selbstverletzendes Verhalten im Vergleich zum Bevölkerungsdurchschnitt überdurchschnittlich oft. Auch beginnen die Verletzungen oft schon viel früher, nicht selten im frühen Kindesalter. Da der Grund bzw. das Ziel dieses Verhaltens nicht selten eine Selbststimulation ist, gibt es hier wieder eine Überschneidung zu ‚nichtbehinderten’ Selbstverletzern. Dies wird vor allem noch durch die Tatsache bestätigt, dass selbstverletzendes Verhalten bei behinderten Menschen in Institutionen markant häufiger vorkommt als bei denen, die nicht in Institutionen leben. Dieser Personenkreis ist häufig einem hohen Maß an seelischen Entbehrungen sowie Vernachlässigung ausgesetzt. Außerdem wurde in den letzten Jahren auch immer mehr erkannt, dass behinderte Menschen nicht seltener Opfer sexueller Übergriffe bzw. Misshandlungen werden – bei ihnen lassen sich dabei evtl. auftretende Verletzungen nur dramatischerweise leichter auf SVV schieben. Gleichzeitig machen sie hier die gleiche Erfahrung von Vernachlässigung, Misshandlung, Missbrauch wie unzählige nicht-behinderte Frauen und versuchen dies ebenso (traumatisch) zu verarbeiten und damit umzugehen.

Eine weitere Parallele ist der Umgang mit Gefühlen von behinderten Personen. Oft werden ihre Gefühle nicht oder eben als nicht normal wahrgenommen bzw. werden sie so behandelt als ob sie keine Gefühle hätten. Das macht sie ohnmächtig, sie fühlen sich nicht ernst genommen, ausgeschlossen, zurückgewiesen – gleiche Gefühle werden auch oft von nicht-behinderten Frauen, die sich selbst verletzen, genannt.

Daneben gibt es noch andere Gründe für SVV bei Menschen mit Behinderungen. Hierauf möchte ich aber nicht noch näher eingehen, ich verweise hier vor allem auf Rohmann / Elbing 1998.