Inhalt

Intro

Deprivation - Vernachlässigung

Körperliche Misshandlung

Sexueller Missbrauch

Innerpsychische Mechanismen

Bedeutungen, Funktionen

Intro

Selbstverletzendem Verhalten, wie ich es hier auf diesen Seiten beschreibe, geht sehr häufig – um nicht zu sagen immer - eine traumatische Erfahrung oder auch mehrere voraus. Ich bin der Meinung, dass das selbstverletzende Verhalten nur dann dauerhaft beendet werden kann, wenn die zugrundeliegenden Ursachen herausgefunden wurden und diese Erfahrungen verarbeitet werden konnten.

Es wird hier nicht die gesamte Bandbreite der möglichen Ursachen dargestellt, zum einen aus Platzgründen, zum anderen, weil mir sicherlich nicht alle bekannt sind. Es werden aber drei ‚Kategorien’ von Hintergründen genannt, in denen sich wahrscheinlich die meisten individuell verschiedenen Ursachen einordnen lassen. Da ich davon ausgehe, dass die Hauptursache von SVV in sozialen Beziehungen (der Familien- und Kindheitsgeschichte) zu finden ist, werde ich auch nicht weiter auf biologische oder lerntheoretische Modelle eingehen. Diese können meiner Meinung nach vor allem bei der Erklärung des Chronifizierungs- und Suchtaspektes helfen, klären aber nicht die Ursache auf.

Man kann davon ausgehen, dass es bei SVV-Patienten zu (massiven) Störungen in der kindlichen Entwicklung gekommen ist. So ist die Kindheit der meisten Betroffenen durch ein hohes Ausmaß von Verlust- und Trennungssituationen sowie verschiedenste Gewalterfahrungen geprägt. Diese lassen sich vor allem in den folgenden drei Bereichen (‚Kategorien’) festmachen:

  • Vernachlässigung (Deprivation) in der Kindheit
  • Körperliche Misshandlungen
  • Sexueller Missbrauch

Im Folgenden möchte ich kurz auf die dabei ablaufenden Prozesse, die schließlich zu SVV führen (können), eingehen, aber bitte: wie immer nicht als Dogma verstehen: bei jedem gibt es individuelle Unterschiede und Abstufungen, es geht um ein grobes Schema, um es auch für Nicht-Betroffene verständlich zu machen.

Deprivation - Vernachlässigung

Zunächst eine kurze Definition dessen: unter Deprivation wird der Entzug oder das Vorenthalten von lebensnotwendigen Objekten oder Reizen verstanden, welche sowohl physischer als auch psychischer Art sein können.

Abhängig vom Zeitpunkt dieses Mangels entwickeln sich daraus unterschiedlich stark wirkende und eingesetzte Bewältigungsmechanismen. Durch die Reizarmut werden die Kinder nicht (ausreichend) in ihrer Entwicklung gefördert, durch die emotionale Unterversorgung drohen sie außerdem zu ‚verhungern’ – sie haben Angst, fühlen sich allein und verlassen. Erfolgt oder beginnt diese emotionale und körperliche Vernachlässigung bereits im Säuglingsalter, wird der Säugling, um überleben zu können, Mechanismen entwickeln (natürlich noch unbewusst), die es für ihn ‚erträglich’ machen. Eine der Grundbedingungen bei der Entwicklung eines ‚gesunden’ Selbst-Bewußtseins ist die ausreichende Versorgung des Säuglings. Sie hilft ihm, die verschiedenen Anteile seines Selbst (also sowohl die positiven, wie auch die eher spannungsbeladenen) in diesem zu einem Gesamtselbst zu integrieren. Der vernachlässigte Säugling muss jedoch bestimmte Anteile abspalten und zwar all diese, die mit unangenehmen Erfahrungen verbunden sind, um – wie schon gesagt - überleben zu können. Dies ist dann eben der Körper, der z. Bsp. Hunger oder Schmerz verursacht. Beim ausreichend versorgten Kind werden diese Bedürfnisse von außen befriedigt, d.h. sie sind nicht von Dauer, sind zu bewältigen und das Kind lernt dazu die verschiedenen Methoden, um sie zu befriedigen bzw. befriedigen zu lassen (z. Bsp. Schreien). Das vernachlässigte Kind tut das am Anfang ebenso, aber da das Schreien nicht zu einer positiven Veränderung führt, wird der Körper irgendwann als ‚böses’ Objekt, und somit nicht mehr zu einem selbst gehörend, abgespalten. Gleichzeitig kann hier auch bereits die Erfahrung gemacht werden, dass die einzige Zuwendung, die bei der Äußerung von Bedürfnissen erfolgt, die der Strafe, des Schmerzes ist – z. Bsp. wenn das Kind geschlagen wird, weil es schreit. Diese Erfahrung wiederholt sich dann auch bei jeder Selbstverletzung – das Zufügen von Schmerz ist die einzig kennengelernte (und somit auch verdiente) Form der Zuwendung. Denn verschiedenste Untersuchungen an vernachlässigten und / oder misshandelten Kindern haben gezeigt, dass diese lieber geschlagen werden (und eben dann auch lernen, dies bei ihren Eltern zu provozieren) als gar keine Aufmerksamkeit zu bekommen (also vernachlässigt zu werden). Das erscheint zunächst paradox, ist aber leider eine Tatsache und bei Kenntnis der kindlichen Entwicklung auch verständlich.

Zum Teil habe ich schon erklärt, wie die (früh)kindliche Vernachlässigung später zu SVV führen kann: bei Deprivation wird der eigene Körper als verhasstes und böses Objekt (welches nur unlustvolle Empfindungen verursachte) abgespalten, welches einerseits nicht gut umsorgt (bemuttert) wird, andererseits als strafendes Objekt von außen eingesetzt werden kann. Diese Abspaltung des Körpers als Nicht-Selbst wird auch meist in der weiteren Entwicklung durch die Erfahrung verstärkt, dass die Kinder nicht selten Selbstobjekte ihrer Mütter sind: ob nun das Kind zum einzigen Lebenszweck und –inhalt der Mutter wird oder ob es um die narzisstische Befriedigung und Erfüllung ihrer (der Mutter) eigenen Wünsche und Bedürfnisse (Anerkennungswünsche, Berufswünsche etc.) geht – das Ergebnis ist das selbe: die Kinder haben keine eigene Lebensberechtigung.

Körperliche Misshandlung

Körperliche Misshandlung ist ein weiterer häufiger Hintergrund in der Geschichte von ‚Selbstverletzern’. Durch körperliche Misshandlung wird dem Kind zum einen wiederum das bestehende Machtgefälle demonstriert, gleichzeitig werden Gefühle, Grenzen und Rechte des Kindes missachtet, sozusagen ‚mit Füssen getreten’.

Manchmal, wahrscheinlich nicht selten, wird die körperliche Misshandlung des Kindes – wenn sie in der Familie stattfindet und von diesen Fällen ist hier überwiegend die Rede – zur Stabilisierung des Familiengefüges vollzogen. Das heißt, ein oder auch mehrere Familienmitglieder beteiligen sich aktiv an der Misshandlung, die anderen tolerieren bzw. ignorieren die Misshandlung - ebenso aktiv. Dadurch können beispielsweise innere Spannungen, die in der Familie herrschen, über ein Objekt (das Kind) abgebaut werden. Das Kind ist hier also auch wieder nur Objekt. Ich denke, dass es bei körperlicher Misshandlung in der Familie in den meisten Fällen nach diesem Muster abläuft, es gibt nur eine Unterscheidung in dem Grad der Bewusstheit. Manchmal ist die Misshandlung eben einfach ‚mehr heimlich’.

Das ‚Ergebnis’ der körperlichen Misshandlungen ist ein negatives Selbstbild sowie die Entwicklung einer negativen Lebenseinstellung. Die für das Kind wichtigen Vorbilder und Identifikationsobjekte (Eltern) zeigen dem Kind nur eine Welt, die aus Gewalt besteht: in welcher auch Kontaktaufnahme sowie Aufmerksamkeit fast ausschließlich nur über Gewaltanwendung erfolgt. Das Kind, welches seine Eltern liebt und außerdem maximal von diesen abhängig ist (es hat also keine andere Wahl), kann die bei ihm selbst entstehenden Gefühle von Wut und Aggression jedoch nicht gegen den Verursacher dieser Gefühlszustände – den Aggressor – wenden, weil es dann ‚völlig allein’ wäre. Irgendwo muss die Wut aber hin und so kommt es, hier noch abhängig von der Erziehungsmethode, bei Jungen oft zu einem massiv aggressiven Verhalten anderen gegenüber, während Mädchen die Aggressionen meist gegen sich selbst richten (Diese ‚Aufteilung’ unterliegt aufgrund der teilweise veränderten Rollenvorstellungen einem Prozess der Wandlung: auch Mädchen zeigen öfter (als früher) fremdaggressives Verhalten und auch Jungen richten die Wut öfter (als früher) gegen sich selbst). Da die Eltern für Kinder zunächst immer gut sind (leider kann man dies nicht abschalten, es entspricht nämlich wahrscheinlich weniger als oft der Realität), übernehmen die Kinder, wiederum um die Situation ertragen zu können, die Vorstellungen der Eltern – also sie selbst sind schlecht und verdienen diese Behandlung !

Dies wiederholt sich dann immer wieder bei späteren Selbstverletzungen, auch hier spielt der Aspekt der Selbstbestrafung (man hat nichts Besseres verdient) eine große Rolle.

Sexueller Missbrauch

In der Wissenschaft geht man inzwischen von einer Häufung sexueller Missbrauchserfahrungen in der Geschichte von Personen, die sich selbst verletzen, aus. Bisher fehlen dafür aber noch differenzierte Untersuchungen, die dies eindeutig belegen könnten. Man geht nach den vorliegenden Zahlen von einer Häufigkeit zwischen 33 und 70 Prozent aus, d.h. in diesem Rahmen liegt ein sexueller Missbrauch in der Geschichte von Selbstverletzern vor.

Die Mechanismen der Verarbeitung sind in vielen Bereichen denen bei körperlicher Misshandlung ähnlich oder gleich: auch hier sieht das Kind die Ursache dieser Behandlung in seiner eigenen Schlechtigkeit, denn die Eltern können nicht schlecht sein, also ist es man selbst. Schuldgefühle sind hier oft noch größer: warum empfindet man auch noch Lust dabei, warum konnte man sich selbst nicht wehren ... Der Körper wird wieder als das ‚böse, schmutzige’ Objekt abgespalten.

Innerpsychische Mechanismen

Alle drei beschriebenen Bereiche stellen mit ihren verschiedenen Ausprägungsformen Traumata (Trauma = Verletzung) dar. Und bereits das einmalige Auftreten von traumatischen Erlebnissen kann zur Ausbildung einer diffusen Kombination verschiedener physischer und emotionaler Reaktionen führen, die ein Leben lang erhalten bleiben können. Oft ist es bei Selbstverletzern auch noch zu einer Anhäufung verschiedener traumatischer Erlebnisse gekommen. Wie werden nun diese Traumatisierungen verarbeitet, damit die Betroffenen weiter-‚leben’ (denn oft fühlen sie sich eher tot) können?

Einer der wichtigsten und wohl auch am häufigsten eingesetzten Bewältigungsmechanismen ist die Dissoziation, eine Fähigkeit, die jeder Mensch besitzt und welche unbewusst eingesetzt wird, um vor unerträglichen Schmerzen und Erfahrungen zu schützen. Dabei geschieht durch die Aufspaltung der Wahrnehmung die Möglichkeit, eine realistische Wahrnehmung, die aber für den innerseelischen Zustand nicht erträglich ist, abzuspalten. Dissoziation wird also als gesunder Abwehrmechanismus eingesetzt. Sie kann auch bewusst induziert werden, dabei stehen insbesondere die folgenden drei Mechanismen ‚zur Verfügung’, die in unerträglichen, schmerzvollen Situationen eingesetzt werden können:

  • das Kind entwickelt Techniken, mit denen es seinen Körper aktiv verlassen kann, um die Demütigung nicht mehr spüren zu müssen (induzierte Depersonalisation) - Bsp.: das Kind verlässt seinen Körper und befindet sich an einem anderen Ort
  • eine traumatische Erfahrung wird ihres Realitätsgehaltes entkleidet (induzierte Derealisation) – Bsp.: das ist mir gar nicht passiert, habe ich nur geträumt, habe ich mir eingebildet, habe ich missverstanden...  – diese Variante wird wahrscheinlich auch am meisten von ‚betroffenen’ Erwachsenen unterstützt
  • Verlassen der Realität durch intensive Phantasietätigkeit – Bsp.: der Papa spielt mit mir gerade auf einer schönen Wiese Mutter und Vater (Wird den Kindern aber auch oft erzählt)

Alle genannten Mechanismen wirken zunächst schützend und lebenserhaltend, langfristig können sie sich aber verselbständigen und damit selbst zur ‚Bedrohung’ werden.

Kommt es dann nämlich selbständig zum Beispiel zum Realitätsverlust oder ‚Körper-Verlassen’ kommen die Betroffenen durcheinander, sie fühlen sich wie tot und diese Zustände können durch einen krassen (Ein-) Schnitt beendet werden. Doch dazu mehr im folgenden, unter dem Stichwort ‚Bedeutungen’.

Bedeutungen, Funktionen

Dass SVV verschiedene Bedeutungen und Funktionen hat, habe ich schon an anderer Stelle erwähnt. Hier sollen diese etwas ausführlicher dargestellt werden.

Zunächst muss man zwischen zwei Arten von Funktionen unterscheiden: den intrapsychischen – also denen, die selbst direkt ‚erfüllt’ werden können – und den interpsychischen Funktionen – also denen, wenn andere Personen mit ins Spiel kommen.

Intrapsychische Funktionen

Für viele ‚Selbstverletzer’ stellt SVV oft die einzige, zumindest die bedeutendeste Möglichkeit der Selbstfürsorge dar. Das ist in der beschriebenen Störung während der Symbiose bedingt. So haben Kinder, die (wechselseitigen) Erfahrungen von Vernachlässigung und Missbrauch ausgesetzt waren, ein eher schlechtes Mutterobjekt verinnerlicht, d.h. Liebe und Zuwendung sind immer mit Schmerz verbunden. Die Betroffene kann sich ihrem Körper also nur mittels Schmerz zuwenden, Spannung können nur so reduziert werden – die frühe Erfahrung wird in der Symptomhandlung reinszeniert.

Außerdem kann SVV spannungsgeladene Zustände (z.Bsp. in Konfliktsituationen, bei Einsamkeit...) beenden, es wirkt dabei wie ein Ventil: der Druck wird abgelassen, hinterher ist man erleichtert, entspannt.

SVV ist auch in seiner Wirkung als Antidepressivum bekannt. So kann es in Zuständen von Einsamkeit oder auch bloßem Alleinsein zu heftigen Zuständen von innerer Leere und Depression kommen. ‚Selbstverletzer’ sind oft auf die Anwesenheit von anderen Personen (Realobjekten) angewiesen, die ihnen eine Daseinsberechtigung geben, die sie so nicht haben. Das Alleinsein weckt größte Ängste, die Selbstverletzung dient in diesen Zuständen auch der Selbststimulation.

Entscheidungssituationen können auch zu enormen innerem Druck führen. Da viele der Betroffenen in ihrer Kindheit nicht die Fähigkeit erlernt haben, Entscheidungen kompromisshaft zu lösen, wird jede derartige Situation zu einer Katastrophe: es gibt nur schwarz oder weiss und egal wie man sich entscheiden wird, es wird falsch sein (z. Bsp. irgendjemand kommt dabei zu kurz). Die bedrohlichen Gefühle hat man früher mit einer bewussten Depersonalisation ‚bewältigt’. Jetzt hat sich dieser Mechanismus automatisiert, er ist (scheinbar) nicht mehr kontrollierbar – die Auflösung des Selbst droht – und das kann mit einer Selbstverletzung beendet werden, es werden wieder Grenzen hergestellt, der Körper wird wieder spürbar (wenn auch manchmal erst nach langem und tiefem Schneiden). Hier wirkt SVV als Antidissoziativum.

Auch der Vorgang der Derealisation kann sich verselbständigen – man weiß nicht mehr was Realität ist und was Phantasie – hier wirkt SVV als Antipsychotikum.

Den Aspekt der Selbstbestrafung habe ich schon ausführlich beschrieben, man darf keine Fehler machen (was realistisch gesehen unmöglich ist, vor allem bei dem hohen Ich-Ideal der Betroffenen) – passiert es doch, verdient man nur Missachtung und Bestrafung. Situationen des Selbsthasses führen nicht selten zu Suizidgedanken, hier kann durch die Selbstverletzung das Über-Ich befriedigt werden, ohne dass man sich töten muss. SVV ist also auch Suizidprophylaxe (so merkwürdig das auch erst erscheinen mag).

Als letzte intrapsychische Bedeutung möchte ich hier den Aspekt der Selbstkontrolle erwähnen. SVV-Patienten leiden häufig unter Kontrollverlust: bei der Selbstverletzung liegt jedoch alles in ihrer Hand, sie sind auf niemanden sonst angewiesen und haben außerdem eine enorme Schmerzunempfindlichkeit. Damit ‚prahlen’ sie sicher nicht – dafür schämen sie sich dann schon wieder – aber auch dieser Aspekt (was ich alles aushalten kann - Stolz) spielt eine Rolle bei SVV.

Interpsychische Funktionen

Diese sind wahrscheinlich eher bekannt, damit meine ich: auch Außenstehenden. Dabei muss man aber aufpassen, was tatsächlich bezweckt ist als Wirkung und was bei Nicht-Betroffenen schließlich ausgelöst wird. Das muss sich nicht immer decken.

Im Vordergrund steht meiner Meinung nach die Bedeutung als präverbaler Hilfsappell – als Hilferuf. Dazu bedarf es aber oft vieler Versuche, manchmal reagieren Personen, die von SVV bei einer anderen Person erfahren ‚gar nicht’ (Ignorieren), oft wird mit Ablehnung und Schrecken reagiert.

Oft wird die Selbstverletzung erst im nachhinein für Außenzwecke ‚genutzt’, d.h. erst durch die Verstärkung der Umwelt (Reaktionen von Abscheu über Mitleid bis zu wahrer Zuwendung) entwickeln sich aus der vorher autistisch vollzogenen Handlung andere Zwecke. Dazu kann die Befriedigung narzisstischer Bedürfnisse (siehe oben), das Erhalten von Aufmerksamkeit, die Befreiung von sozialen Pflichten gehören.